Der Sämann
Im Umgang mit der Weide offenbart sich für die Weidenkünstlerin Irmgard Wissing ein Hauch von Magie und Psychologie, da die Weide im Schaffensprozess innere Themen ins Bewusstsein holt. Dieser Schaffensprozess berührt ihre Seele und wird dadurch für sie zur Kunst. In der Verarbeitung zu Skulpturen gibt Frau Wissing einem alten Handwerk ein neues Gesicht.
Irmgard Wissing, geboren 1963 in Heinsberg, lebt und arbeitet heute in Bad Bevesen (Lüneburger Heide). Ihre Weidenfiguren sind meist kindlicher Art und erinnern uns Erwachsene an ein Lebensgefühl, das getragen ist von beschwingter Leichtigkeit, Lebensfreude, Risikobereitschaft, Gelassenheit und Vitalität.
Die Figur des Sämann greift das Bild des Landwirtes auf, um es symbolisch zu transzendieren. Er verkörpert eine archetypische Ausdrucks- und Identifikationsfigur und ist ein Garant ewiger Wiederkehr und des steten Neubeginns. Indem er sein Korn ausstreut, beginnt er den Kreislauf des Lebens. Aussäen, Wachsen, Reifen, Ernten, erneut Frucht bringen sind nicht nur in der Landwirtschaft wiederkehrende Lebensthemen sondern auch in der Seelenentwicklung jedes Menschen.
Reiche Ernte ist für Frau Wissing ein Sinnbild für ein gelungenes Leben und bedarf der Achtsamkeit und der Liebe schon bei der Aussaat. Wie bei Van Gogh wird der Sämann ein Symbol für die Sehnsucht nach dem „Unendlichen“. So wie der Boden den Samen empfängt, so empfängt die lebendige Seele eines Menschen Impulse aus dem „Unendlichen“. Lässt sie sich berühren und ist sie bereit zur Verwandlung (Transformation), so belebt sie im Menschen die Phantasie und Kreativität. Nur so ist Handeln durchdrungen von fürsorglicher Leidenschaft und Lebensfreude. Klarheit, Kraft, Zuversicht und Hoffnung sind dann Qualitäten für neue ganzheitliche Lebenskonzepte im Kleinen wie in großen globalen Zusammenhängen.
So symbolisiert der Sämann eine innere Wandlungsbereitschaft, die dem Bedürfnis des Menschen nach werthaltiger Schöpfung und Gestaltung entspricht.
Irmgard Wissing, Bad Bevesen 10.06.2021
Ansprache Irmgard Wissing
Einweihung Sämann in Niederhöchstedt
am 12.06.2021
Vielen Dank dem Brauchtumsverein und der Stadt Eschborn für diese Einladung, den Sämann und das Füllhorn nun einzuweihen.
Ich bin heute aus der Lüneburger Heide zu Ihnen gekommen. Seit Juli letzten Jahres wohne ich mit meinem Mann nicht mehr im Münsterland, sondern in Bad Bevensen.
Zu meinen allerersten Objekten gehörte ein Riesenfüllhorn, in das ich mich selbst hineinlegen konnte. Das war jedoch schon 2015 verwittert. Die kleinere Variante haben wir nun hier vor Ort. Ich freue mich, dass es so dekorativ mit Erdbeeren gefüllt ist.
Als die Absprache mit dem Brauchtumsverein getroffen war, eine 2 Meter große Weidenfigur für das Jubiläum zu fertigen, war ich vor neue Herausforderungen gestellt. Zuvor hatte ich keine Figur in dieser Größe in meinem Repertoire, die so viel Ernsthaftigkeit ausstrahlt, wie dieser Sämann.Die veränderten Ansprüche an Material und Statik waren anzupassen.
Bislang wickelte ich vornehmlich kleinere Kinderskulpturen voller Leichtigkeit undLebensfreude. Sie haben die Größe von 1m bis 1,20 m.
Ich fertige Sie für private Kunden, für zahlreiche Kindergärten und Kitas im Rheinland, verschicke sie deutschlandweit oder bot sie vor Corona-Zeiten mit meinem Verkaufszelt auf renommierten Kunst- und Gartenevents an.
Die meisten Besucher sind erstaunt und es folgen typische Fragen:
Figuren aus Weide habe ich noch nie gesehen, machen Sie die selbst?
Wo haben Sie das gelernt?
Wie kommt eine Gartenbau Ingenieurin dazu, mit Weiden zu flechten?
Ich gehe in dieser Ansprache nun näher auf diese Fragen ein.
Als Gärtnerin war ich schon immer der Natur nah, als Mutter kannte ich das Basteln für und mit Kindern,
künstlerisch arbeitete ich mit Stein, Holz, Ton oder Wolle,
bis ich vor 10 Jahren geflochtene Gartenobjekte auf einem Basar gefunden habe. Ich war so begeistert davon und ich wusste sofort: So will ich auch lernen zu flechten.
Dann ging alles ganz schnell. Ich fand Kerstin Eikmeier, die in Porta Westfalica lebt und arbeitet. Sie absolvierte ihre Ausbildung an der Berufsfachschule für Flechtwerkgestaltung in Lichtenfels. Damals (von 1990 bis 1993) hieß es noch Korbfachschule. Bei Kerstin Eikmeier lernte ich die ersten Handgriffe, einen Einblick in das Material und war fasziniert:
Im Umgang mit der Weide können wir etwas von uns selbst gespiegelt bekommen: Sind wir im Fluss des Lebens, lebendig oder starr? Sind wir zu offen oder zu ängstlich?
Die Weide vereinigt in sich wie kein anderes Material die Polarität von Geschmeidigkeit und Zähigkeit mit Widerspenstigkeit und Starre.
Kerstin blieb meine Lehrerin. Gleichzeitig gab ich in meiner kleinen Werkstatt mein Wissen weiter. Nebenbei entwickelte ich meine eigene Art weiter – mit Weiden Objekte zu schaffen.
(Ich gab ständig Kurse für die Landfrauen. Das Leben war leicht und schön.
Die Teilnehmerliste war leicht zu erkennen. Wer eine Kugel im Garten liegen hatte, besuchte bereits einen Kurs bei mir. Wer keine Kugel hatte, meldete sich an,bis schließlich das ganze Münsterland mit Weiden Kugeln versorgt war.
Die Kugel hat eine tiefe Symbolik. Sie läuft rund, unablässig und harmonisch, so wie sich jeder das Leben wünscht. Das Streben nach Glück, Frieden und Erfüllung sind existentielle Themen. Der „Weideprozess“ kann dabei helfen, wieder insGleichgewicht zu kommen.)
Symbole sprechen das Unterbewusste an. Und diese Symbolkraft schlägt heute wie ein Herz in meinen Figuren. Es ist mir ein Bedürfnis, Leichtigkeit, Harmonie und inneres Gleichgewicht in die Herzen der Menschen zu tragen.
Viele meiner Figuren sind bereits im Stadtbild der Korbmacherstadt Lichtenfels bei Bamberg integriert. Die Stadt will, dass das Flechten das ganze Jahr in der Stadt präsent ist und nicht nur zum Korbmarkt im Herbst.
Und so tanzen, laufen und balancieren meine Figuren wie beseelt durch Lichtenfels. Die Figuren zaubern ein Lächeln auf die Gesichter der Menschen. Sie teilen die Bilder auf ihren sozialen Medien. Der Stadtmanager Steffen Hofmann sagt: „Die Figuren kommen wahnsinnig gut bei den Leuten an.“
Bei einer Ausschreibung in Lichtenfels erlangte ich den zweiten Preis. So wurde ich danach auch 2019 mit 10 anderen deutschen Flechtern in Polen Mitstreiterin beim weltweiten Flechtfestival, an dem Vertreter von über 50 Nationen aus allen Erdteilen teilnahmen.
Dafür reichte ich Objekte zum Thema „Leichtigkeit und Schwere“ ein:
zwei Kinder auf der Flucht, die gemeinsam einen Bollerwagen ziehen
und zwei laufende Kinder voller Lebensfreude.
In demselben Jahr trat der Brauchtumsverein mit der Bitte an mich heran, eine 2 m große Figur – denSämann – zu erschaffen. Ein herzliches Danke an Simone Gottschalk – sie war meine Kontaktperson, die alles so wunderbar vermittelt und organisiert hat – bis ich heute mit Ihnen allen die Einweihung feiern kann.
Beim Wickeln des Sämannes ging es mir mit der Weide wie bei meinen anderen Figuren:
Die Weide offenbart nämlich einen Hauch von Magie, wenn sie im Schaffensprozess innere Themen ins Bewusstsein holt. Wie Samen kommen Impulse aus dem „Unendlichen“. Dieser Schaffensprozess berührt meine Seele. Dadurch wird für mich mein Schaffen zur Kunst.
Vielleicht – so ist mein Wunsch – lässt sich der Betrachter des Sämanns auch berühren und in seiner Phantasie und Kreativität beleben.
Meine persönlichen Themen waren während der Arbeit am Sämann „ewige Wiederkehr und Neubeginn“. Ich erinnerte mich an Höhen und Tiefen meines Lebens, Erfolge und Misserfolge, Saaten die aufgegangen sind, Saaten mit guten und schlechten Wachstumsbedingungen, Ideen und Visionen die Gestalt annahmen und andere, die ich habe vertrocknen lassen. Sähen, Wachsen lassen, Hegen und Pflegen, Ernten.
Das waren bekannte alltägliche Themen aus meinem Berufsalltag als Gärtnerin, nun aber in veränderter Form übertragen auf mein Denken und Fühlen.
Die Figur des Sämanns greift das Bild eines Landwirtes auf, um es symbolisch zu transzendieren.
Hier beim Sämann erhält die Weidenverarbeitung ein neues Gesicht, das unabhängig ist vom Nutzen und der Notwendigkeit des Transportieren und Aufbewahren Wollens.
Wie schön, dass sich der Brauchtumsverein für diesebeiden Objekte aus Weiden entschieden hat. Auch das Korbmacherhandwerk hat eine lange Tradition und bedarf der Pflege und der Erinnerungskultur. Sonst geht das Wissen um dieses wertvolle Handwerk verloren.
Noch einige Worte zum Abschluss zum Füllhorn, das aus Weide wie ein großer Korb geflochten ist.
Das Füllhorn mit seiner reichen Ernte ist für mich ein Sinnbild für ein gelungenes Leben, und es bedarf vor der Ernte schon bei der Aussaat der Achtsamkeit und Liebe.
So sehr freue ich mich jetzt, dass hier noch ein kleines meiner Füllhörner liegt. Möge es sich nun für die Stadt Eschborn mit einer reichen Ernte auf allen Ebenen füllen.
Und so wünsche ich Ihnen, dem Brauchtumsvereinund der Stadt, dass die Weidenkunst die Menschen belebt und sie mit fürsorglicher Leidenschaft und Lebensfreude durchdringt.
Danke dass die Weidenobjekte „der Sämann“ und das „Füllhorn“ hier ihren Platz einnehmen dürfen.
Irmgard Wissing, Bad Bevensen den 12.06.2021
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